Wirtschaftsspiegel Thüringen - Ausgabe 4/15 - page 6

Automotive
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hält und dass dies auch so bleiben
wird. Gleichwohl hat es im September
einen Regierungswechsel gegeben,
der von vielen Unternehmern mit
Skepsis betrachtet wurde. Inzwischen
haben Sie erste Erfahrungen mit den
neuen Amtsträgern sammeln können.
Wie ist Ihr Eindruck?
Der AT hat sich seit Bestehen politisch
neutral verhalten, unabhängig davon, in
welcher Konstellation in Thüringen re-
giert wurde. Dies wird auch so bleiben.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass wir
zu Themen und Rahmenbedingungen,
die von der jeweiligen Thüringer Lan-
desregierung gesetzt werden, keine
Stellung beziehen. Die schließt Zustim-
mung ebenso ein wie Ablehnung und
auch konstruktive Kritik. Wir sehen uns
als konstruktiver Gesprächspartner der
Politik und dies unabhängig von jedwe-
dem Parteibuch.
Die neuen politisch gesetzten Rahmen-
bedingungen beeinflussen unsere Bran-
che derzeit dramatisch. Die gesetzli-
chen Regelungen zum Genehmigungs-
verfahren für Arbeit an Sonn- und
Feiertagen führen dazu, dass wir im
Vergleich zu den übrigen Bundeslän-
dern an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Denn diese Bedingungen gelten nur im
Freistaat Thüringen, nachdem die ande-
ren Bundesländer sie nicht umgesetzt
haben.
Wir müssen und werden mit der Politik
über dieses Problem reden. Die Zulie-
ferindustrie benötigt diese Flexibilität
der Arbeitszeitnutzung auch an Wo-
chenenden, wenn Zulieferungen oder
Maschinen ausfallen und die verbind-
lich zugesagten Lieferungen an die
Endkunden nicht mehr erfüllt werden
können. Natürlich sind wir im AT auch
für die verdiente Freizeit. Warum soll-
ten wir die Wochenendarbeit strate-
gisch nutzen wollen, wenn wir am
der geschlossenen Verträge und auf
Basis der dem Zulieferer zugemuteten
Geschäfts- und Lieferbedingungen.
Selbstverständlich wird eine Null-
Fehler-Belieferung gefordert, eine
Belieferung nach wöchentlich sich än-
dernden Mengenabrufen. Gefordert
werden Haftungen für Rückholaktionen
und Unterlieferungen bis hin zum
Bandstillstand des Kunden.
Wir haben Unternehmen in unserer
Branche, insbesondere die Zulieferer,
die kein eigenes Produkt entwickelt und
patenrechtlich geschützt haben. Es sind
Zulieferer, die sich zum Fertigungsspe-
zialisten entwickelt haben, die sich in
der Rolle der verlängerten Werkbank
sehen, immer bedroht durch niedrige
Preise auf dem Weltmarkt, bedroht
durch jährlich geforderte Preisreduk-
tionen. Der AT hält trotz Bekenntnis zur
Vertragsfreiheit Passagen der Liefer-
bedingungen für sittenwidrig, weil sie
einseitig zu Lasten der Zulieferer gehen.
Sie sind einem Erfüllungsrisiko ausge-
setzt, das vom Endkunden gefordert
wird.
Überprüfungen durch den Endkunden
vor Ort sind heute die Regel: Prüfungen
der technischen Umsetzbarkeit von be-
stellten Produkten, Prüfungen der in-
stallierten Jahreskapazitäten durch
Überprüfung der Investitionen, vorge-
geben durch Jahresstückzahlen, obwohl
diese je nach Marktentwicklung mitun-
ter nicht erreicht werden. Vorlage der
kompletten Kalkulations- und Ferti-
gungsunterlagen, von Arbeitsplänen,
Taktzeiten der Maschinenprozesse,
Transparenz aller im Unternehmen an-
fallenden Kosten, teilweise erpresseri-
sche Verhandlungen zur Festlegung des
Stückpreises und zur Durchsetzung der
Lieferbedingungen des Endkunden,
Überprüfung der Finanzstruktur des
Lieferanten, um einem eventuell vorlie-
Wochenende die doppelten Löhne zahlen müssen?
Lassen Sie mich zu einer Bewertung des gesetzlichen
Bildungsurlaubs in Thüringen kommen. Das ist keine
Erfindung der Thüringer Landespolitik. In Hessen wird
das seit Jahren praktiziert, jedoch mit einem
Unterschied. Der Schulungsinhalt sollte sich um ar-
beitsnahe Qualifizierungsmaßnahmen der Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter drehen und nicht wie vorge-
sehen um Lerninhalte zu gesellschaftlichen Fragen,
die mit dem Arbeitsplatz keine Verbindung haben. Wir
in der Automobilindustrie qualifizieren unsere Mitar-
beiter, um den technischen Fortschritt bewältigen zu
können, im Interesse des Unternehmens und im
Interesse der Beschäftigten. Das macht Sinn, ist not-
wendig und bedarf keiner Zwangsmaßnahme durch
die Politik.
„Kreißsaal, Hörsaal und Plenarsaal“, diese Lebens-
erfahrung von so manchen Politikern in Deutschland
ist nicht ausreichend, um die Probleme in der Wirt-
schaft zu lösen. Es geht auch nicht mit einer parteipo-
litischen Brille. Wir als AT erwarten eine rechtzeitige
Beteiligung an den Vorhaben der Wirtschaftspolitik –
vor der Gesetzgebung – um eine Folgeabschätzung
rechtzeitig durchführen zu können. Wir stehen der
Regierung Ramelow vorbehaltlos zu Gesprächen zur
Verfügung und wir sind erfreut, dass dies auch zuneh-
mend genutzt wird.
Kommen wir zum Thema des diesjährigen Bran-
chentages, „der gläserne Patient“. Das klingt nach
totaler Überwachung der Zulieferer durch die Her-
steller. Wie weit geht die?
Es geht auf dem Branchentag darum, den Mitgliedern
und der Öffentlichkeit transparent zu machen, unter
welchen Bedingungen – die die OEMs vorgeben – die
mittelständischen Zulieferer heute arbeiten und über-
leben müssen. Ja, wir sind für unsere Kunden gläsern,
also transparent, und wir sind zum Teil im Stadium ei-
nes Patienten, der von den Lieferbedingungen der
OEMs infiziert um das Überleben im globalen Wett-
bewerb kämpft.
Unsere Verkaufspreise werden vom Kunden gesetzt,
nicht von uns, den Zulieferern. Wer diese Hauptfor-
derung des Kunden nicht erfüllen kann, wird aus dem
Zulieferbereich gestrichen, mitunter unter Verletzung
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